Europa ist die Heimat vieler leistungsstarker Unternehmen – doch insgesamt wachsen europäische Firmen langsamer, erwirtschaften geringere Renditen und investieren weniger in Forschung und Entwicklung als ihre amerikanischen Wettbewerber. Technologie gibt zunehmend den Ausschlag. Von zehn Querschnittstechnologien, die für die meisten Branchen relevant sind, ist Europa nur in zweien führend: Bei grünen Technologien wie Erneuerbare Energien sowie bei Materialien der nächsten Generation. Durch diese Technologielücke könnte bis 2040 Unternehmenswertschöpfung von zwei bis vier Billionen Euro pro Jahr auf dem Spiel stehen. Das entspräche 30 bis 70 Prozent des prognostizierten BIP-Wachstums in Europa zwischen 2019 und 2040 oder einem Prozentpunkt Wachstum pro Jahr. Umgerechnet wäre dies das Sechsfache des Bruttobetrags, der in Europa benötigt wird, um bis 2050 Netto-Null-Emissionen zu erreichen, etwa 90 Prozent aller derzeitigen europäischen Sozialausgaben oder 500 Euro monatliches Grundeinkommen für jeden europäischen Bürger. Dies ist das Ergebnis einer neuen Studie des McKinsey Global Institute mit dem Titel „Securing Europe’s future beyond energy: Addressing its corporate and technology gap“, für die 30 europäische Länder (EU plus Norwegen, Schweiz und Vereiniges Königreich) sowie mehr als 12.000 Unternehmen weltweit untersucht wurden.
Technologierückstand wird zur „Krise in Zeitlupe“
„Europa hat in seiner schnellen Reaktion auf den Krieg in der Ukraine gezeigt, dass es in Krisen handlungsfähig ist“, sagt Jan Mischke, MGI-Partner und Co-Autor der Studie. „Um in seinen Wachstumserwartungen und strategischer Autonomie nicht ins Hintertreffen zu geraten, sollte Europe neben der Energie- jetzt auch seine Unternehmens- und Technologiekrise in den Fokus nehmen. Denn Technologie ist ein bestimmender Wettbewerbsfaktor in allen Branchen geworden.“
Zwischen 2014 und 2019 wuchsen die Umsätze großer europäischer Unternehmen um 40 Prozent langsamer als die ihrer Pendants in den Vereinigten Staaten, sie investierten acht Prozent weniger (Investitionsausgaben im Verhältnis zum Bestand an investiertem Kapital) und gaben 40 Prozent weniger für Forschung und Entwicklung aus als US-Unternehmen. 80 Prozent der Investitionslücke, 60 Prozent der Wachstumslücke und 75 Prozent der FuE-Lücke entfallen auf technologie-lastige Branchen wie die Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) und die Pharmaindustrie.
Jedoch wird Technologie immer relevanter in allen Industrien. Rückstände bedrohen auch europäische Schlüsselsektoren wie den Automobilbau. Beispiel autonomes Fahren: Hier entfallen fast 70 Prozent aller bislang von vollautonomen Fahrzeugen zurückgelegten Kilometer auf US-Hersteller.
Europa ist bei acht von zehn Querschnittstechnologien im Rückstand. Sieben davon bauen auf IKT auf und sind mit einer „Winner-takes-all“-Dynamik verbunden, bei der Europa einen schweren Stand hat. So befinden sich beispielsweise die zehn größten Unternehmen, die in Quantencomputer investieren, alle entweder in den Vereinigten Staaten oder in China. Im Bereich 5G entfallen fast 60 Prozent der externen Finanzierung auf China, 27 Prozent auf die Vereinigten Staaten und nur elf Prozent auf Europa. Cleantech gilt als europäische Hochburg, und tatsächlich liegt die Region bei Patenten, Risikokapitalfinanzierung und installierter Kapazität in ausgereiften Technologien vorn. China ist jedoch in fast allen Bereichen führend in der Cleantech-Produktion, und die USA sind bei den meisten bahnbrechenden Technologien wie Kernfusion vorn.
„Dennoch: Europa hat viele Stärken, auf denen es aufbauen kann. Denn wenn Europa funktioniert, funktioniert es gut“, weist Solveigh Hieronimus, Senior Partnerin von McKinsey, auf Erfolgsbeispiele hin. „Europa hatte in Sachen Nachhaltigkeit und Inklusion schon immer eine gute Bilanz vorzuweisen.“ Es habe niedrigere Pro-Kopf-Emissionen als die Vereinigten Staaten und China, und die Emissionen sinken 30 bis 50 Prozent schneller. Die Einkommensungleichheit, gemessen am Gini-Index, beträgt nur 30, während sie in den Vereinigten Staaten 41 beträgt. Alle zehn Länder, die in dem vom Weltwirtschaftsforum veröffentlichten Index der sozialen Mobilität an der Spitze stehen, sind europäische Länder.
„Europas Entscheidungsträger und Unternehmen sollten jetzt eine Reihe von Initiativen auf den Weg bringen“, sagt Mischke. Die Anfang 2022 angekündigten Pläne zur Förderung der Halbleiterproduktion oder von Satellitenprogrammen seien gute Beispiele. „Das Ziel muss sein, schneller und innovationsfreundlicher zu werden und damit die heutige hohe Lebensqualität für die Bürgerinnen und Bürger unseres Kontinents, aber auch unsere strategische Autonomie und Rolle in der Welt, langfristig zu erhalten.“ Zu den elf Ideen, die die Studie nennt, gehören zum Beispiel die Einführung eines gemeinsamen europäischen Beschaffungswesens in innovationsrelevanten Bereichen – von der Verteidigung bis zum Gesundheitswesen. Europa bündelt heute nur 0,2 Prozent seiner gesamten öffentlichen Beschaffung – in den USA sind es auf Bundesebene 45 Prozent. Ein einheitliches europäisches Regelwerk für Unternehmen, schnellere Entscheidungs- und Genehmigungsverfahren sowie verstärkte Bemühungen um Aus- und Weiterbildung seien weitere Hebel.