Im Interview mit der ElektroWirtschaft spricht Prof. Dr.-Ing. Dieter Wegener, Sprecher des ZVEI-Führungskreises Industrie 4.0, über die Chancen der digitalisierten Produktion, die Veränderungen in der Wertschöpfungskette sowie das Thema Standardisierung.
ElektroWirtschaft: Welche Chancen bietet aus Ihrer Sicht das Konzept von Industrie 4.0 und wie verändert aus Ihrer Sicht die Digitalisierung die Wertschöpfungskette?
Prof. Dr.-Ing. Dieter Wegener: Industrie 4.0 ist kein Konzept, sondern die Digitalisierung der produzierenden Industrie. Dadurch verändert sich die Wertschöpfungskette in zahlreichen Bereichen grundlegend. Zum Beispiel werden die Daten von Maschinen und Anlagen aus dem Shopfloor mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz analysiert und als sogenannte Value-Based-Services aufbereitet, um bedarfsund nutzergerechte individuelle Services anzubieten. Eine optimierte Wartung zum richtigen Zeitpunkt – Stichwort Predictive Maintenance – oder auch die rechtzeitige Bereitstellung der richtigen Prozessparameter für die aktuell geforderte Fertigungsaufgabe sind Beispiele dafür.
ElektroWirtschaft: Inwieweit verbessern Digitalisierung und Automation auch die Produktqualität?
Prof. Dr.-Ing. Dieter Wegener: Automation hilft seit Jahrzenten, die Qualität von Produkten zu steigern. Die Digitalisierung der Produktion ermöglicht nun eine weitere Qualitätsverbesserung, indem man über die Analyse aller verfügbaren Daten aus dem Shopfloor über den gesamten Lebenszyklus hinweg Potenziale hebt. Im Bereich der Produktionsüberwachung und bei der Optimierung von Produkten ergeben sich dabei große Potenziale. Wie bereits oben erwähnt, es geht um die Bereiche der Zustandsüberwachung – Condition Monitoring – und um die vorrausschauende Wartung, auch bekannt als Predictive Maintenance.
ElektroWirtschaft: Wie groß ist die Herausforderung, bisher erfolgreiche Geschäftsmodelle aus der analogen Welt gegen neue digitale zu ersetzen?
Prof. Dr.-Ing. Dieter Wegener: Es geht nicht um das Ersetzen, sondern vielmehr darum, erfolgreiche Geschäftsmodelle aus der analogen Welt um neue digitale Geschäftsmodelle zu erweitern. Es gibt bereits gute Beispiele, die zeigen, dass Kunden bereit sind, für einen zusätzlichen digitalen Nutzen von Produkten zu bezahlen. Dahinter steckt die Idee von „Smart Services“, das heißt zum physischen Produkt kommt noch eine digitale Dienstleistung. Die Einführung von einem solchen digitalen Geschäftsmodell ist für unsere mittelständisch geprägte Industrie allerdings keine Selbstverständlichkeit.
ElektroWirtschaft: Wie kann die nahtlose Anbindung von „Industrie 4.0“ an die im Unternehmen vorhandenen Systeme gewährleistet werden? Auf welche Standards kommt es an?
Prof. Dr.-Ing. Dieter Wegener: Die nahtlose Anbindung kann nur durch gemeinsame Standards und Normen gelingen. Dabei muss die Industrie Prozesse aus der IT-Welt adaptieren. Die Stichworte sind agile Standardisierung und Open Source Software.
Mit der Plattform Industrie 4.0, dem Standardization Council Industrie 4.0 (SCI4.0) und dem Labs Network Industrie 4.0 (LNI4.0) haben wir dafür in Deutschland ein einmaliges Ökosystem geschaffen. Es hat Vorbildfunktion für viele andere Länder. Auf dieser Basis treiben wir die internationale Standardisierung im Bereich Industrie 4.0 voran.
ElektroWirtschaft: Wie weit sind die aktuellen Standardisierungsbemühungen in Deutschland schon gediehen?
Prof. Dr.-Ing. Dieter Wegener: In Deutschland machen wir gute Fortschritte. Die Syntax für die Verwaltungsschale, das heißt die „grammatikalische Beschreibung“ des digitalen Abbilds eines physischen Produkts oder Geräts, ist auf den Weg gebracht.
Auch bei der Semantik machen wir gute Fortschritte bei der Erstellung von Teilinformationsmodellen. Sie können sich das folgendermaßen vorstellen: Die Verwaltungsschale ist wie ein digitales Bücherregal aufgebaut. In ihm gibt es zahlreiche Bücher, die sogenannten semantischen Teilmodelle. Sie widmen sich unterschiedlichen Themen wie beispielsweise dem Condition Monitoring, der Identifikation oder dem digitalen Typenschild. In diesem Bereich gilt es allerdings die Aktivitäten weiter auszubauen und sie auf europäischer und anschließend internationaler Ebene abzustimmen.
ElektroWirtschaft: Worauf sollte man unter Sicherheitsaspekten bei der Vernetzung sämtlicher Maschinen und Fertigungsprozesse vor allem achten? Wie lassen sich Sicherheitsangriffe vermeiden?
Prof. Dr.-Ing. Dieter Wegener: Sicherheitsangriffe werden sich niemals vermeiden lassen. Aber das Risiko erfolgreicher Angriffe kann deutlich minimiert werden, durch die konsequente Anwendung von Normen wie der IEC 62443 in Kombination mit der ISO 27000. Hierzu sind auch Konzepte in der AG3 der Plattform Industrie 4.0 entwickelt worden.
Ein sehr guter Ansatz ist das CERT@VDE. Dabei handelt es sich um ein sogenanntes Computer Emergency Response Team (CERT) zur Koordination von IT-Security-Problemen speziell für KMU im Bereich Industrieautomation.
ElektroWirtschaft: Der Begriff „Industrie 4.0“ ist seit einigen Jahren ein nicht wegzudenkendes Schlagwort. Bereits Ende 2013 wurde im ZVEI der Führungskreis Industrie 4.0 ins Leben gerufen, um das Thema voranzutreiben. Was genau steckt dahinter?
Prof. Dr.-Ing. Dieter Wegener: RAMI 4.0, Industrie 4.0-Komponente und Verwaltungsschale – all diese Begriffe und Modelle, die es bei der Gründung des ZVEI-Führungskreises Industrie 4.0 im Oktober 2013 noch nicht gab, hat dieser Kreis in den letzten sechs Jahren entwickelt und geprägt. Industrie 4.0 ist auf diese Weise zu einer international anerkannten Marke für die smarte Fabrik „made in Germany“ geworden. Auf diesen Meilensteinen setzt der Verband weiter auf: Eine gemeinsame Sprache für Industrie-4.0-fähige Geräte ist dabei eine wichtige Voraussetzung, denn sie macht die Fabrik letztendlich wirklich smart. Daran arbeitet der ZVEI derzeit. Basis dafür ist die Verwaltungsschale, das sogenannte digitale Abbild eines physischen Gegenstands.
Auch die internationale Standardisierung steht dabei auf der Agenda. Der ZVEI engagiert sich, eine gemeinsame Position zu Verwaltungsschalen mit Italien und Frankreich in die Internationale Elektrotechnische Kommission (IEC) und Internationale Organisation für Normung (ISO) einzubringen.
Gleichzeitig soll mit der Verwaltungsschale die 3i-Strategie des Führungskreises operativ umgesetzt werden: Die elektronische Kennzeichnung von Produkten mit digitalem Typenschild, das in der Verwaltungsschale als ein Teilmodell abgelegt wird, dient dabei als erster Anwendungsfall. Es handelt sich um die einmalige Gelegenheit, das Modell Verwaltungsschale in die operative Umsetzung zu bringen. Hinter der Entwicklung eines herstellerübergreifend einheitlichen, digitalen Typenschilds liegen pragmatische Überlegungen: Bei herkömmlichen Kennzeichnungen wird es immer schwieriger die Vielfalt der Informationen auf der begrenzten Produktoberfläche unterzubringen. Auch besteht die Gefahr der Verschmutzung, sodass die Informationen nicht mehr lesbar sind. Beim digitalen Typenschild werden alle Daten elektronisch gespeichert und können auf Displays oder mit einem Lesegerät (bei RFID-Chips) abgerufen werden. Die deutschen Automatisierer zeigen damit anderen Unternehmen und der Politik, wie eine rein elektronische und überall verfügbare technische Dokumentation funktionieren kann und auch noch die Ressourcen schont.
Das Interview ist erstmalig in der November-Ausgabe 2019 erschienen.
Übrigens: Auch in der November-Ausgabe 2020 beschäftigen wir uns mit dem Thema “Industrie 4.0” – jetzt informieren: