Gute Nachrichten für Deutschland – aber nur temporär: Die neuesten Ergebnisse im Energiewende-Index von McKinsey & Company liefern eine Überraschung. Zehn der insgesamt 15 Indikatoren, deren Entwicklung von der Unternehmensberatung halbjährlich mit Blick auf ihren Beitrag zur Energiewende in Deutschland untersucht werden, sind in ihrer Zielerreichung bis 2030 „realistisch“, zwei mehr als bei der letzten Erhebung im September. Nur vier Indikatoren sind in ihrer Zielerreichung nach jetzigem Stand „unrealistisch“. Eine so positive Bilanz konnte der Index seit seinem Bestehen 2012 nicht verzeichnen. Doch die Verschnaufpause für den Klimawandel ist nur von kurzer Dauer: Tatsächlich stehen sechs der aktuell zehn als realistisch eingestuften Indikatoren auf der Kippe – in der vergangenen Erhebung waren es nur drei.
Vor allem zwei Indikatoren entwickeln sich dank Corona positiv
„Haupttreiber der Verbesserung im vergangenen Halbjahr waren nicht echte Fortschritte bei der Umsetzung der Energiewende, sondern die Effekte der Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID-19“, sagt Seniorpartner Thomas Vahlenkamp, Co-Autor der regelmäßig erscheinenden Energiewende-Bestandsaufnahme von McKinsey. Vor allem der CO2-Ausstoß und der Primärenergieverbrauch seien von den landesweiten Maßnahmen stark beeinflusst worden. So konnten die Treibhausgasemissionen ersten Schätzungen zufolge von 805 Mio. Tonnen in 2019 auf 722 Mio. Tonnen im Corona-Jahr 2020 gesenkt werden. Das Ziel von 750 Mio. Tonnen wurde somit um elf Prozent deutlich unterschritten. Doch der Indikator steht bereits kurzfristig wieder auf der Kippe, denn im Zuge der erwarteten wirtschaftlichen Erholung wird der CO2-Ausstoß aller Voraussicht nach auf sein Vorkrisenniveau zurückkehren und wieder deutlich unter seinen Zielwert fallen.
Auch der Primärenergieverbrauch ist während der Corona-Krise von 12.800 auf 11.691 Petajoule gesunken und verbessert damit seine Zielerreichung sprunghaft von 60 Prozent auf 93 Prozent. Der deutlich geringere Verbrauch lässt sich McKinsey zufolge aber vor allem auf die geringere wirtschaftliche Aktivität im Zuge der Pandemiebekämpfung zurückführen. Es ist auch bei diesem Erfolg davon auszugehen, dass er mit dem Ende der Pandemie und dem erneuten Hochfahren der Wirtschaft teilweise oder vollständig wieder zurückgedreht wird.
Wasserstoff hilft beim Erreichen der Klimaziele
Um das Pariser Klimaabkommen zu erfüllen, müsste Deutschland seine CO2-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber dem Basisjahr 1990 reduzieren. Auf dem Höhepunkt des Lockdown Anfang April ging der tägliche CO2-Ausstoß in Deutschland nach ersten Schätzungen um rund 26 Prozent zurück. Würden die Emissionen dauerhaft auf diesem Niveau bleiben, wären die Klimaziele bis 2030 nahezu erreicht. „Doch das ist unrealistisch, würde eine fortgesetzte geringere wirtschaftliche Aktivität unterstellen und wäre somit mit einem hohen volkswirtschaftlichen Schaden verbunden“, urteilt McKinsey-Partner Ingmar Ritzenhofen, Co-Autor des Energiewende-Index. Es müssten also alternative Wege her, damit sowohl der Wohlstand erhalten bleibt und gleichzeitig Emissionen gesenkt werden können. Ein Wegbereiter hierbei könnte Wasserstoff sein.
McKinsey zufolge könnte Wasserstoff vor allem im Verkehrs- und im Wärmesektor in Zukunft eine wichtige Rolle spielen, beispielsweise als Kraftstoff für Busse oder im Schwertransport. Deshalb versuchen nun einige Länder, den Wandel zu erneuerbaren Energien mit Hilfe von Wasserstoff zu beschleunigen. Alleine Deutschland will bis 2030 neun Mrd. Euro in die Technologie investieren. „Wasserstoff kann zu einem Kernbestandteil der Energiewende avancieren, bislang hat das allerdings maximal auf dem Papier stattgefunden“, sagt Thomas Vahlenkamp.
Das Problem ist folgendes: Der aktuell im Fokus der Diskussion stehende, CO2-freie „grüne Wasserstoff“, der bei der Elektrolyse von Wasser gewonnen wird, ist bisher kaum wettbewerbsfähig, weil er drei- bis viermal teurer als die fossil-produzierte Variante ist. Allerdings wird erwartet, dass sich die Herstellungskosten noch in diesem Jahrzehnt um 60 Prozent reduzieren lassen – hauptsächlich durch sinkende Investitionskosten für Elektrolyseanlagen (infolge von Skaleneffekten bei der Herstellung und voranschreitender Kommerzialisierung) sowie durch weiter verringerte Stromerzeugungskosten im EE-Bereich. Damit einhergehen würde eine steigende Nachfrage: In den nächsten 30 Jahren könnte durch fortschreitende Dekarbonisierung alleine in der EU der Bedarf um das Siebenfache steigen. Ritzenhofen ist sicher: „Auf Dauer führt kein Weg am Wasserstoff vorbei, wenn die Energiewende vollständig gelingen soll.“
Energiewende-Index: die Indikatoren im Überblick
Auf den ersten Blick fällt die aktuelle Energiewendebilanz positiv aus. Doch bei genauer Betrachtung besteht in vielen Bereichen weiterhin deutlicher Handlungsbedarf. Nur vier von 15 Indikatoren sind in ihrer Zielerreichung „stabil realistisch“: der EE-Anteil am Bruttostromverbrauch, die Gesamtenergiekosten Haushalte, der Indikator Verfügbare Kapazität für Import aus Nachbarländern sowie der Indikator Ausfall Stromversorgung.
Sechs momentan noch als realistisch eingestufte Indikatoren stehen mittelfristig auf der Kippe: Neben den Indikatoren CO2-Ausstoß und Primärenergieverbrauch hat auch der Indikator Sektorkopplung: Wärme sein Ziel mit 163 Prozent mehr als nur erfüllt. Allerdings ist er in den vergangenen zwei Jahren lediglich um 0,6 Prozentpunkte gestiegen. Um die Zielmarke von 27 Prozent bis 2030 zu erreichen, wären Steigerungsraten von mindestens einem Prozentpunkt pro Jahr notwendig. Der Indikator Arbeitsplätze in erneuerbaren Energien hat sein Ziel mit 96 Prozent nur knapp verfehlt. Rund 309.000 Angestellte arbeiten in der Branche. Für den EE-Anteil am Bruttoendenergieverbrauch liegen noch keine neuen Daten vor. Daher verharrt der Indikator in seiner Zielerreichung weiterhin bei 95 Prozent. Ebenfalls unverändert auf Grund fehlender aktueller Daten bleibt der Indikatorwert für die gesicherte Reservemarge mit einer Zielerreichung von 109 Prozent. Mit Blick auf den laufenden Ausstieg aus Kernenergie und Kohleverstromung ist allerdings davon auszugehen, dass sich dieser Wert bald verschlechtern wird.