Weil der Netzausbau für den Umbau des Energiesystems nicht so schnell möglich ist, muss das bestehende Netz soweit möglich ausgenutzt werden. In welchen Umfang Betriebsmittel höhere Spannungen bewältigen können, zeigt jetzt die neue Studie „Spannungsfestigkeit“.
Beim Umbau des Energiesystems auf Basis erneuerbarer Energien ist neben der Strombelastbarkeit auch die Spannungshöhe entscheidend, wenn es um die Auslastung des Netzes geht: Der Fokus in der öffentlichen Diskussion liegt oft darauf, die Strombelastung in Grenzen zu halten. Im Netzbetrieb ist jedoch auch die Spannung ein begrenzender Faktor. Betriebsmittel sind für eine bestimmte Maximalspannung ausgelegt, das heißt mit dieser Spannung können sie dauerhaft betrieben werden und die geplante Lebensdauer wird erreicht. In den internationalen Betriebsmittelstandards für beispielsweise Transformatoren und Schaltgeräte sind kurzzeitige Spannungsüberhöhungen definiert. VDE FNN zeigt in seiner Studie „Spannungsfestigkeit“, unter welchen Bedingungen Betriebsmittel in Verteil- und Übertragungsnetzen temporär höhere Spannungen bewältigen können, die über die bisher in den einschlägigen Normen festgelegten Überspannungshöhen und -zeitdauern sowie deren Häufigkeiten hinausgehen.
Höhere Spannung möglich, aber nur zeitlich begrenzt
Das zentrale Ergebnis der Studie: Netzbetriebsmittel wie Freileitungen, Schaltanlagen und Transformatoren können kurzzeitig mit einer Spannung oberhalb der Bemessungsspannung von 123 Kilovolt (kV), 245 kV und 420 kV sicher und ohne Funktionseinschränkungen betrieben werden. Allerdings müssen Dauer und Häufigkeit begrenzt werden. Bei einzelnen Betriebsmitteln sind laut Studie besondere Effekte zu beachten. So können etwa bei Transformatoren und Drosselspulen höhere Geräusche auftreten, bei Spannungswandlern etwa stationäre Kippschwingungen. „Deshalb empfehlen wir jedem Netzbetreiber, die eigenen Betriebsmittel auf Reserven und Funktionsfähigkeit bei erhöhter Betriebsspannung zu prüfen“, betont Heike Kerber, Geschäftsführerin VDE FNN. Wird beispielsweise ein Betriebsmittel mit einer Spannung oberhalb von 420 kV dauerhaft betrieben, kann sich dessen Lebensdauer um beispielsweise 50 Prozent verkürzen. „In unserer Studie zeigen wir, wie stark die Reserven in verschiedenen Betriebsmitteln ausgenutzt werden können. Damit bieten wir Netzbetreibern eine praxisgerechte Orientierung für den Betrieb und die Planung ihrer Betriebsmittel. Vor allem tragen die Studienergebnisse zu einer weitergehenden Ausnutzung der bestehenden Netze bei.“
Europäische und deutsche Vorgaben weiterentwickeln
Deutschland verfügt über eines der zuverlässigsten Stromnetze weltweit. Das belegt die durchschnittliche Strom-Unterbrechungsdauer von 13,3 Minuten pro Kunde 2018. Damit dies so bleibt, müssen Regeln und Normen für Netztechnik und Netzbetrieb an die Veränderungen im Energiesystem und deren Lösungen angepasst werden. Derzeit sind nicht alle Anforderungen aus den europäischen Network Codes, den harmonisierten Netzzugangsbedingungen für den grenzüberschreitenden Stromaustausch, in den Normen der Betriebsmittel abgebildet. Die aktuellen Network Codes definieren etwa eine zeitlich begrenzte zulässige Spannung, die höher ist als die in Deutschland für die gängigen Betriebsmittel zugrunde gelegte Bemessungsspannung. Heike Kerber sagt: „Mit den Erkenntnissen aus der Studie schließen wir eine Lücke zwischen den Anforderungen der europäischen Network Codes und den Normen für Netz-Betriebsmittel. Wir setzen uns dafür ein, dass die Studienergebnisse auch bei der Weiterentwicklung der europäischen Network Codes herangezogen werden und in die Normung einfließen.“