Am 16. April 2020, einen Tag nach der Pressekonferenz aus dem Kanzleramt zu ersten Corona-Lockerungen, führte die ElektroWirtschaft ein Web-Interview mit Daniel Hager, dem Vorstandsvorsitzenden der Hager Group und Vorsitzenden des ZVEI-Fachverbandes Elektroinstallationssysteme.
ElektroWirtschaft: Wie beurteilen Sie die jetzt auf Bundes- und Länderebene gewählten Strategien für eine schrittweise Rückkehr zur Normalität nach dem radikalen Lockdown?
Daniel Hager: Wie viele Wirtschaftsführer war ich von der Pressekonferenz am 15. April aus dem Kanzleramt sehr enttäuscht: Es wurde fast kein Wort über die Wirtschaft verloren, die unseren Wohlstand finanziert. Für mich ist das jetzt noch zwei Wochen lang ein „weiter so“ mit kleinen Lockerungen und ohne Entscheidungen. Planungssicherheit sieht anders aus. Ich denke es ist klar, dass wir in den nächsten zwei Jahren mit Corona leben müssen und dass es dadurch eine neue Normalität geben muss. Das kann aber nicht die Normalität der nächsten zwei Wochen sein. Die können wir uns auf Dauer nicht leisten! Gerade jetzt, wo in der Industrie jeder Tag zählt, ist das ein Schlag ins Gesicht. Da fehlt es bei den Entscheidern aus meiner Sicht offenbar auch am Mut, Handlungsspielräume auszuschöpfen.
ElektroWirtschaft: Was sind Ihre dringendsten Forderungen an die Politik?
Daniel Hager: Die Bundesregierung sollte – so wie Armin Laschet das in NRW getan hat – einen „Corona-Expertenrat“ ins Leben rufen. Wir müssen das Virus so schnell wie möglich besser verstehen, um zu einem gesellschaftlichen Konsens zu kommen, was reale Ansteckungsgefahren sind und was Fiktion ist. Auf dieser Basis muss die Politik einen Plan entwickeln mit nachvollziehbaren Kriterien sowie klaren KPIs (Key Performance Indicators), also Kennzahlen, die zu bestimmten Handlungen führen – gegebenenfalls auch eine temporäre Rücknahme von Lockerungen. Dafür brauchen wir aber auch Daten, die aussagefähiger sind als die aktuelle Statistik, die stark von der Anzahl der Tests abhängt. Außerdem fordere ich mehr Transparenz seitens der Politik, indem sie offen kommuniziert und genau beziffert, was jetzt noch nicht ausreichend vorhanden ist – Tests, Masken, Notbetten, etc. Die hilft für die weitere Planbarkeit.
ElektroWirtschaft: Wie beurteilen Sie die Wirkung der deutschen Maßnahmen auf Europa?
Daniel Hager: Ich denke wir dürfen uns in Deutschland nicht „einbunkern“, sondern wir müssen die Handlungsspielräume, die wir jetzt haben auch nutzen und in Europa vorangehen. Unsere europäischen Volkswirtschaften sind als Absatz- und Zuliefermärkte so verknüpft, dass von Deutschland ein wichtiges Signal ausgeht. Dazu habe ich am 15. April aus dem Kanzleramt leider nichts gehört.
ElektroWirtschaft: Was befürchten Sie für die Wirtschaft und die Politik?
Daniel Hager: Bei Hotelbetrieben, Restaurants, Messebauern, Eventagenturen und Künstlern werden wir ein „Sterben“ erleben, das bei der Pressekonferenz auch mit keinem Wort erwähnt wurde. Nach der Prognose des ifo-Instituts kann die gesamte deutsche Wirtschaft wegen der Corona-Krise um 20 Prozent schrumpfen. Ich glaube die wirtschaftlichen Folgen werden von der Politik aktuell noch massiv unterschätzt! Wir haben jetzt eine ganz andere Situation als 2008/2009, als es relativ schnell wieder aufwärts ging. Die KfW hat jetzt schon 20 Milliarden Euro an Krediten zur Verfügung gestellt. In der kompletten Finanzkrise waren es nur knapp acht Milliarden. Laut Arbeitgeberverband Gesamtmetall haben wir heute schon so viele Kurzarbeiter, wie von der Bundesregierung für die gesamte Corona-Krise prognostiziert wurden. Wenn das so weitergeht, erleben wir einen massiven wirtschaftlichen Schaden mit gravierenden sozialen Konsequenzen, die auch zu einer politischen Radikalisierung führen können.
ElektroWirtschaft: Wobei die Situation in der Elektrobranche aktuell noch nicht so dramatisch ist, wie in anderen Wirtschaftszweigen – oder?
Daniel Hager: In der Tat war die Auftragslage in der Elektrobranche bis vor Kurzem noch sehr gut und unsere Situation ist jetzt noch verhältnismäßig gut. Auch weil wir von gewissen Verschiebungen profitieren: Während ein Teil der Aufträge wegbricht, werden jetzt vermehrt Wartungsarbeiten in der Industrie und Sanierungsprojekte in öffentlichen Gebäuden durchgeführt. Aber auch in der Elektroinstallationsindustrie sieht man den Einbruch kommen: Seit Ende März gehen die Umsätze zurück – teilweise wegen fehlender Lieferfähigkeit, weil Zulieferteile fehlen oder weil die Produktivität nicht auf dem normalen Niveau ist. Auch in unserer Branche gibt es schon Probleme mit Liquidität. Auf Großbaustellen ist jetzt der Wegfall der Mitarbeiter aus Osteuropa spürbar. In anderen europäischen Ländern ist es allerdings dramatischer: In Frankreich sind derzeit 90 Prozent der Baustellen stillgelegt. In Italien und Spanien ist es ähnlich.
ElektroWirtschaft: Sie haben Produktionsstandorte in mehreren europäischen Ländern, die alle in Betrieb sind – nach vorübergehender Schließung auch wieder in Frankreich und Italien. Welche Herausforderungen mussten und müssen Sie dabei bewältigen?
Daniel Hager: Überall hatte der Schutz der Mitarbeiter oberste Priorität und wir sind an allen Standorten mit den gleichen Prinzipien und Prozessen vorgegangen: mit Temperaturkontrollen an den Eingängen, Gesichtsschutz wenn nötig und 1,5 Meter Abstand zwischen den Arbeitsplätzen. Wir mussten bei unseren Mitarbeitern auch Überzeugungsarbeit leisten, weil wir es mit tiefsitzenden Ängsten zu tun haben. Es wäre hilfreich, wenn von der Politik klare Ansagen kämen, was man machen kann und was nicht. So wie von Professor Hendrik Streeck, einem Virologen der Universität Bonn, der auf Basis der Heinsberg-Studie die These vertritt, dass eine Übertragung nur im direkten Kontakt erfolgt.
Wir haben bei Corona-Fällen bisher Abteilungen und Werke geschlossen. Jetzt brauchen wir eine praktikable Regelung: Wir können nicht bei jedem Fall ein ganzes Werk 14 Tage lang schließen. Außerdem sind unsere Werke stark miteinander vernetzt und damit aufeinander angewiesen. Im Moment laufen zum Glück fast alle – wenn auch nicht auf Volllast. Indien ist noch geschlossen und Polen läuft demnächst an. Das ist wichtig, denn die Nachfrage in Deutschland ist weiter da – im Gegensatz zu Frankreich, Spanien und Italien.
ElektroWirtschaft: Wie gut funktioniert Ihr Warenverkehr innerhalb Europas? Wie sieht es mit Lieferungen aus ihren Fertigungen in China aus?
Daniel Hager: Lieferungen über innereuropäische Grenzen funktionieren zum Glück gut – wenn auch mit zeitlicher Verzögerung. Unser Werk in China beliefert den asiatischen Markt und die Produktion dort läuft wieder normal. Dort haben wir schon Anfang Januar mit der Corona-Krise gekämpft. Problematisch ist es allerdings, manche Zulieferteile von China nach Europa zu bekommen. Auch bei der Luftfracht gibt es einen Engpass.
ElektroWirtschaft: Wie kann das vertrauensvolle Miteinander im dreistufigen Vertriebsweg dazu beitragen, die Krise gemeinsam durchzustehen? Welche Formen von gegenseitiger Unterstützung und Fairplay sind im Rahmen des Wettbewerbsrechts möglich? Auch seitens der Industrie?
Daniel Hager: Wir haben jetzt im ZVEI einen intensiven Austausch ebenso mit dem VEG und dem ZVEH, um die Marktlage zu verstehen und besser einzuschätzen, welche Maßnahmen uns helfen, durch diese schwierige Zeit zu kommen. Das ist ein sehr vertrauensvoller und offener Austausch bei strikter Einhaltung der Compliance-Regeln. Da gibt es auch bei uns im Fachverband ein Interesse an den Nöten des Anderen und ein vermehrtes Zusammenrücken. Im dreistufigen Vertriebsweg helfen uns die hohe Professionalität in der Zusammenarbeit und die Tatsache, dass wir gleiche Ziele und Überzeugungen haben.
ElektroWirtschaft: Welche Veränderungen durch die Krise können auch Chancen sein?
Daniel Hager: Als Chance sehe ich auf jeden Fall die beschleunigte Digitalisierung – auch in den Lieferketten. Außerdem sehen wir jetzt, dass Homeoffice funktionieren kann. Bei manchen Mitarbeitern steigt sogar die Produktivität. Aber in Zukunft wird es doch wichtig bleiben, regelmäßig reale Gesichter zu sehen und auch einen persönlichen Austausch zu haben. Für den vertrauensvollen Kontakt mit unseren Kunden brauchen wir auch weiter Veranstaltungen.
ElektroWirtschaft: Wie stehen Sie zur Light + Building?
Daniel Hager: Wir bei der Hager Group haben die Light + Building in der letzten September-Woche fest eingeplant und wir gehen davon aus, dass sie stattfindet. Bis jetzt sind auch die Haupthersteller aus dem ZVEI-Fachverband Elektroinstallationssysteme alle dabei. Auch der Fachverband Licht kämpft für eine größtmögliche Zahl an Ausstellern. Aufgrund einer geringeren internationalen Reisetätigkeit werden wir vielleicht nicht so hohe Besucherzahlen wie beim letzten Mal verzeichnen. Aber auf jeden Fall ist die Messe für unsere Branche ein Leuchtturm und wir können dort öffentlich zeigen, was uns ausmacht und unsere Innovationskraft unter Beweis stellen. Mit der neuen Halle haben wir auch tolle neue Möglichkeiten. Natürlich bedeutet die Verschiebung auf September jetzt Mehrkosten für alle Aussteller, aber wir können – wie auf jeder Light + Building – ganz viel voneinander lernen im direkten Kontakt mit dem Handwerk und dem Handel. Und es wäre auch hilfreich, zu diesem Zeitpunkt eine erste „Corona-Bilanz“ für unsere Branche zu ziehen.
ElektroWirtschaft: Sehen Sie besondere Stärken von inhabergeführten Familienunternehmen, die in der aktuellen Lage hilfreich sind?
Daniel Hager: Wir können die Dinge differenzierter betrachten als Konzerne, die auf Quartalsergebnisse getrimmt sind. Wir planen ein Leben nach Corona und bleiben an Zukunftsthemen weiter dran. Mit einer längerfristigen Perspektive und einer höheren Kapitalquote können wir wichtige Investitionen weiter auf dem notwendigen Niveau halten und Mitarbeiter mitnehmen. Wir profitieren auch von der gewohnten Verbindlichkeit, mit der wir Partnern und Kunden in die Augen schauen können. Meistens geht zumindest der größere Mittelstand gestärkt aus Krisen hervor.
ElektroWirtschaft: Als Vorstandsvorsitzender der Hager Group und Vorsitzender des ZVEI-Fachverband Elektroinstallationssysteme haben Sie jetzt in der Krise sicher ein noch höheres Arbeitspensum als üblich. Sie stehen in der Verantwortung für das Familienunternehmen und rund 12.000 Mitarbeiter. Was hilft Ihnen persönlich dabei, diese Anforderungen körperlich und mental zu bewältigen?
Daniel Hager: Es ist für uns alle wichtig, sich nicht runter ziehen zu lassen. Ich denke grundsätzlich positiv, auch wenn ich am Anfang unseres Gesprächs ein ziemlich schwarzes Bild gemalt habe. Die Überzeugung, dass es weitergehen muss und wird, vermittle ich auch jede Woche im direkten Gespräch mit den Mitarbeitern in unseren deutschen Werken. Es beruhigt mich, dass ich in den anderen Ländern Kollegen habe, die sehr vorausschauend planen und mitarbeiten. In der Krise können sich Charaktere beweisen und zeigen.
Ich persönlich schlafe gut, weil ich mit mir im Reinen bin. Das hilft mir dabei, tagsüber klar zu denken. Ich versuche körperlich fit zu bleiben, indem ich weiter jogge. Ich ernähre mich gesund und habe meinen Weinkeller noch nicht geleert. Mich elektrisiert so eine Krisenzeit auch. Das ist jetzt kein Geplätscher und man muss die Hand nah am Ruder haben. Das schüttet Adrenalin aus. Für mich als Führungskraft ist es motivierend, das Heft des Handelns in der Hand zu haben und den besten Weg zu finden, um aus der schwierigen Lage heraus zu kommen.
ElektroWirtschaft: Was gibt Ihnen Hoffnung bei aller Kritik an der aktuellen Politik?
Daniel Hager: Wir sind weiter in einer zukunftsträchtigen Branche tätig. Unsere großen Themen werden auch nach der Krise noch da sein: Energieeffizienz, Elektromobilität, erneuerbare Energien. Auch wenn das vielleicht auf niedrigerem Niveau sein wird, gibt es doch auf jeden Fall weiter tolle Chancen für unsere Branche. Wir können einen Beitrag für ein gutes Leben auf unserem Planeten leisten. Das ist doch für uns eine positive Perspektive bei aller Bedrücktheit über die unzureichenden Lockerungsmaßnahmen.
Moderation: Gudrun Arnold-Schoenen, Herausgeberin und Chefredakteurin der ElektroWirtschaft
Redaktion: Juliane Braun (freie Autorin)
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