Rund ein Fünftel der industriellen Wertschöpfung in Deutschland ist bedroht. Um auch in Zukunft international wettbewerbsfähig zu sein, sind private und öffentliche Mehrinvestitionen in Höhe von 1,4 Billionen Euro bis 2030 nötig. Das sind Ergebnisse der Studie „Transformationspfade“, die der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) bei der Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG) und dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) beauftragt hat. Demnach belasten u.a. langfristig hohe Energiepreise, Arbeitskräftemangel, zu viel Bürokratie, mangelnde Investitionen und hohe Steuern den Standort im internationalen Vergleich.
Die Studie analysiert die Standortbedingungen für Industrie und industrienahe Dienstleistungen detailliert und zeigt konkrete Pfade zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit und Sicherung der Zukunft des Industriestandorts auf. Die Analyse ist in den vergangenen neun Monaten in Zusammenarbeit mit mehr als 30 Unternehmen und Verbänden entstanden, an der Erstellung waren mehr als 40 Expertinnen und Experten von BCG, BDI und IW beteiligt.
Neue Balance zwischen Ökologie und Ökonomie finden
Technologisch bleibt die Dekarbonisierung auf dem Weg zur Klimaneutralität 2045 möglich und machbar, doch im von der Politik angepeilten Zeitplan wird ihre Umsetzung täglich unrealistischer. „Die Transformationspfade-Studie ist ein lauter Weckruf der Industrie für dringend notwendige Veränderungen im Land. Sie stellt fundiert dar, welchen Realitäten sich die Politik stellen muss: Politisches Mikromanagement und fehlender marktwirtschaftlicher Reformwillen lähmen die Unternehmen. Das Risiko einer De-Industrialisierung durch die stille Abwanderung und Aufgabe gerade vieler Mittelständler nimmt kontinuierlich zu und ist teils schon eingetreten“, sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm bei der Vorstellung der Studie am Dienstag in Berlin.
„Die Zeit und die Wettbewerber laufen uns davon. Um den Standort international fit zu machen und die grüne und digitale Transformation zu schaffen, muss die Politik ihre industriepolitische Agenda neu ausrichten. Im Kern muss diese Agenda mit dem Dreiklang aus ökologischem Fortschritt, ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit und technologischer Offenheit Ernst machen und den in vielen Zukunftsbranchen global führenden deutschen Unternehmen Entfaltungs- und Wachstumschancen eröffnen, statt Hindernisse in den Weg zu legen.“
Strukturelle Probleme bremsen Industrie aus
Die Analysen von BCG und IW zeigen: Es ist vor allem die Summe struktureller Probleme, die den Wirtschaftsstandort ausbremst, und schnelle Konjunkturprogramme sind keine Lösung dafür. Die im internationalen Vergleich wenig attraktiven Rahmenbedingungen am Standort haben dazu geführt, dass sowohl öffentliche als auch private Investitionen in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren deutlich unter den Investitionsquoten in anderen Industrieländern lagen. Das Ergebnis sind Defizite im Glasfaserausbau, dem Bildungsniveau und der Verkehrsinfrastruktur. Hohe Energiepreise und aufwändige bürokratische Berichtspflichten binden Kapital und andere Ressourcen, die für Investitionen und Innovationen fehlen. „Die Wiederherstellung unserer Wettbewerbsfähigkeit ist die dringlichste Aufgabe der kommenden Jahre. Nur mit einer innovativen und kompetitiven Wirtschaft werden wir unseren Wohlstand und damit auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zukunft sichern können“, sagte Michael Brigl, Zentraleuropachef von BCG.
Die Standortanalyse verdeutlicht, dass die Industriesektoren in Deutschland durch enge Lieferbeziehungen und andere Abhängigkeiten stark verflochten sind. „Allein die Grundstoffindustrien – um ein Beispiel zu nennen – lösen indirekt rund 84 Milliarden Euro zusätzliche Wertschöpfung in anderen Branchen aus“, erklärte Michael Hüther, Direktor des IW. „Durch diese Verflechtung kann in Krisensituationen die Schwäche einer einzelnen Branche die Wertschöpfung schneller in der Breite gefährden.” Eine erfolgreiche Wirtschaft brauche eine starke Industrie; industrielles Wachstum und internationale Wettbewerbsfähigkeit müssen im politischen Handeln wieder zur Top-Priorität werden. „Voraussetzung für die Sicherung der industriellen Basis sind wettbewerbsfähige Energiepreise, schnelle Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie eine modernisierte und weiter ausgebaute Infrastruktur – von Wasserstoffnetzen über Verkehr bis zu Digitalem. Statt als Bremsklotz sollte Regulierung als Wegbereiter für die Entwicklung von Innovationen verstanden werden. Wo immer möglich sollten europäische Lösungen gefunden, neue Importpartnerschaften geschlossen und die Verteidigungsfähigkeit des Landes gestärkt werden. Das reduziert internationale Abhängigkeiten, stärkt Resilienz und Fortschritt. “
Zusätzlicher Investitionsbedarf von 1,4 Billionen Euro bis 2030
Die Studie identifiziert 15 notwendige Handlungsfelder, um die Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen, die industrielle Basis zu sichern und Wachstum zu beschleunigen. Die Transformationsprozesse erfordern massive private und öffentliche Investitionen im Volumen von zusätzlich 1,4 Billionen Euro bis 2030. „Nur mit diesen Investitionen gelingt die erfolgreiche Transformation hin zu einem zukunfts- und wettbewerbsfähigen Standort. Daher ist die Finanzierung der Transformation ganz klar eine Mehrgenerationenaufgabe“, sagte BDI-Präsident Russwurm. Der private Sektor, also Unternehmen und Haushalte, muss der Studie zufolge mit zwei Drittel der notwendigen Investitionen den Großteil tragen. Das verbleibende Drittel sind staatliche Investitionen.
„Die Zeiten für kleinteilige Regulierung, politische Feinsteuerung und vage Absichtserklärungen sind vorbei. Um Deutschland im internationalen Wettbewerb wieder nach vorn zu bringen und unsere Transformationsziele zu erreichen, braucht es jetzt den großen Wurf: Wir müssen alle Innovations- und Wachstumskräfte dieses Landes entfesseln und dringend mehr Tempo machen. Dann ist der Standort der schleichenden De-Industrialisierung nicht hilflos ausgeliefert“, so Russwurm.
Detaillierte Analysen von Schlüsselindustrien
Um ein detailliertes Bild zur Industrietransformation zu erhalten, haben die Autoren sieben Schlüsselindustrien unter die Lupe genommen. Eine große Chance für Deutschland sehen die Autoren vor allem in grünen und digitalen Technologien – hier rechnen sie damit, dass bis 2030 ein Weltmarkt von jährlich mehr als 15 Billionen Euro entsteht. Deutschland habe vor allem in den Bereichen Klimatechnologien, industrielle Automatisierung und Gesundheit eine gute Ausgangssituation. „Die gute Nachricht ist: Das Rennen um die Zukunftsmärkte ist noch nicht entschieden. Deutschland hat trotz der beschriebenen Herausforderungen des Standortes alle Chancen, um zentrale Zukunftsmärkte zu erschließen und Weltmarktführer zu werden”, sagte Brigl.